Jürgen Heiter |
Balmoral Blend Jahrbuch 2007/2008 Künstlerhaus Schloß Balmoral, Bad Ems Die Straßenbahn am Meer VON RENATE PUVOGEL Jürgen Heiter erzählt in seinen Filmen keine Geschichten, er nähert sich allenfalls der Möglichkeit einer Geschichte als einer wahrscheinlichen Möglichkeit von Wirklichkeit an und damit von Geschichte überhaupt. Dennoch lässt sich der Stoff dieses Films knapp zusammenfassen: Alberto, noch verheiratet, macht sich auf an die belgische Küste zu seiner Geliebten. Doch zur Zeit seiner Ankunft in Oostende stirbt Luisa an den Folgen eines Verkehrsunfalls vom vorangegangenen Tage. Die Liebe ist somit bereits zukünftige Vergangenheit, ehe sie begonnen hat. Das offenbart das komplizierte Verhältnis von Gegenwart zu Vergangenheit und Zukunft als ein zentrales Phänomen, aus dem sich weitere Ungleichzeitigkeiten und Unvereinbarkeiten herleiten lassen. Die Personen der Handlung sprechen nicht direkt, ihre Stimme erklingt nur gelegentlich aus dem Off; zumeist jedoch kommentiert ein unsichtbarer Sprecher, der sich einmal als ?Ich, das Faktotum" vorstellt, die Szene. Dabei decken sich seine Information zumeist nicht mit dem Bild, sie kommt manchmal dem Bild zuvor oder stolpert ihm hinterher. Aber auch inhaltlich sind Wort und Bild keineswegs kongruent, wenn etwa in der Eingangsszene der Protagonist bei warmem Sonnenlicht über die Schwüle eines Gewitters klagt. Später in Oostende setzt der Regen ein; hier jedoch in dieser friedlichen, fast geläuterten Abendstimmung blicken zuerst Luisa, später Alberto an der selben Mauer stehend auf ein Flussufer hinunter; zeitlich versetzt begegnen sie sich natürlich nicht, das Gleiche erscheint im Ungleichen, Zeit und Ort differieren. Beide Personen sind hier als Repoussoirfigur aufgenommen, eine für Heiter typische Kameraeinstellung, weil sie sich dadurch als verdoppelnde Betrachter distanzierend zwischen den Zuschauer des Films und die Szene schieben. Allerdings nimmt der Kommentator dem Rezipienten weitgehend die Rolle ab, das Geschehen zu reflektieren, er erklärt nicht nur den Fortlauf der Handlung sondern gewinnt aus ihr poetische Visionen und philosophische Erkenntnisse. Sie vagabundieren, obgleich verständlich vorgetragen, in einer solchen Dichte, dass der Zuschauer ihnen nur mit Mühe zu folgen vermag. Den Zuschauer in ein Gefühl leichten Schwindels zu versetzen, ist durchaus beabsichtigt, vermittelt es doch dasjenige, was der Film zeigt und die Personen erleben, nämlich: die Wirklichkeit ist nicht zu greifen, sie entgleitet dem Menschen zusehends. Er spürt einen Keim von Entropie, einer zunehmenden Unordnung und Auflösung, welcher die Welt und also auch er selbst unentrinnbar entgegengeht. ?Das Leben flieht dahin", heißt es. Nicht von ungefähr taucht das Motiv des Spiegels auf, quasi als Projektionsfläche, um sich seiner selbst zu vergewissern. In entscheidenden Szenen ist die Person durch reflektierende Fenster hindurch nur schemenhaft zu sehen und gleichsam entrückt. Als Beispiel seines eigenen Schwebezustandes erläutert Alberto aus dem Off, dass eine Geliebte anders zu beschenken sei als eine Ehefrau und Luisa derzeit der Übergangsphase angehöre - eine ebenso belustigende wie essentielle Beobachtung. Alberto erlebt sogar die Erinnerung jeden Tag so, als erinnere er sich zum ersten Mal; dadurch gewinnt das Erinnern für Augenblicke eine Qualität, die der Gegenwart überlegen scheint. Er kann seine Erinnerung ebenso wenig abgeben wie sein Gepäck, letzteres nur im Schließfach verstauen. Dass Luisa gerade bei dieser Tätigkeit stirbt, zeigt, wie selbstverständlich Heiter das Hier und Dort und die Ebenen von High an Low, von Tragischem und Banalem ineinander greifen lässt. Heiter führt den Filminhalt in kurzen Sequenzen vor, dabei wird die Zeit wiederholt gedehnt und gestaucht. Zäsuren rhythmisieren den Verlauf, Einschübe von totalem Schwarz als ein Innehalten, ein Stop sind die augenfälligsten Gestaltungsmerkmale. Da der Sprechton diese Intervalle weitgehend übergeht, erlangt die jeweilige Sentenz umso mehr Nachdruck. Musik erklingt nur am Anfang und Schluss: Arnold Schönbergs voller Orchesterklang hüllt das Geschehen in einen melodramatischen Rahmen. Heiter hat diesen in sich stimmigen Film von 2007 aus Szenen zusammengestellt, welche er einem umfangreicheren, bereits 2002 fertig gestellten Film ?Mes Amis" entnommen hat. Einige Szenen tauchen in beiden Filmen auf, aber zeigt der eine die traurige Liebesepisode mit Alberto als tragender Person, so kreist der andere um den jungen großherzigen Victor, dessen Einsamkeit und Sehnsüchte nicht weniger anrühren.
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